Unter den Teppich gekehrt? Psychologische Sicherheit in der Schweizer Arbeitskultur
- Sunita Asnani
- 8. Sept.
- 4 Min. Lesezeit

Stell dir vor, du sitzt im Team-Meeting. Ein Vorschlag liegt auf dem Tisch, alle nicken. Keine Einwände, keine Fragen. Das Meeting endet pünktlich, die Stimmung wirkt friedlich.
Aber ist es wirklich so? Sind tatsächlich alle überzeugt – oder schweigen wir lieber, um nicht aufzufallen oder anzuecken? Haben wirklich alle das Gleiche verstanden, oder sagen wir nichts, um nicht als dumm dazustehen? Fällt es uns überhaupt auf, wenn jemand nichts sagt?
Harmonie fühlt sich gut an – psychologische Sicherheit geht tiefer. Sie zeigt sich nicht daran, dass niemand widerspricht, sondern daran, dass jede Stimme zählt, auch wenn sie unbequem ist.
1. Psychologische Sicherheit – mehr als nett sein
Nur weil Diskussionen harmonisch verlaufen, heisst das nicht, dass alle einverstanden sind. Manchmal schweigen Mitarbeitende aus Angst, als störend wahrgenommen zu werden, oder weil sie annehmen, dass ihre Perspektive nicht erwünscht ist.
Amy Edmondson von der Harvard Business School hat schon 1999 gezeigt: Teams sind erfolgreicher, wenn Menschen sich trauen, Fehler einzugestehen, Kritik zu äussern oder Fragen zu stellen – ohne Angst vor negativen Konsequenzen (lies mehr dazu hier).
Psychologische Sicherheit bedeutet also nicht: Wir sind immer nett zueinander. Sondern: Ich darf ehrlich sein, ohne Nachteile zu riskieren.
Check für Teams:
Ist das Klima für alle sicher – oder nur für einige wenige?
Wer schweigt, welche Perspektiven bleiben verborgen?
Nutzen wir unsere Stimme, um andere einzuladen?
Sehen wir Meinungsverschiedenheiten als Chance statt als Gefahr?
Wichtig: Psychologische Sicherheit ist kein individuelles Gefühl, sondern ein Klima, das alle Teammitglieder einschliesst.
2. Schweizer Arbeitskultur: Unter den Teppich gekehrt?
In der Schweiz hat Konsens einen hohen Stellenwert. Konflikte werden oft gedämpft, Kompromisse gelten als Tugend. Das Risiko: Konsens wird leicht mit Sicherheit verwechselt. Stille Zustimmung wirkt friedlich – kann aber bedeuten, dass wichtige Punkte ungesagt bleiben.
Ein Blick in Erin Meyers Culture Map zeigt: Während Deutschland direkt und konfrontativ kommuniziert, bevorzugt die Schweiz diplomatische Formulierungen und Konsens. Das erleichtert zwar den Umgang miteinander – birgt aber das Risiko, dass wichtige Punkte unausgesprochen bleiben.
Gerade hier zeigt sich die Bedeutung psychologischer Sicherheit: Nur wenn auch in einem indirekten Kommunikationsstil Raum geschaffen wird, können heikle Themen angesprochen werden, ohne dass jemand das Gesicht verliert.
3. Harmonie vs. psychologische Sicherheit
Forschung zu organisationalem Schweigen zeigt: Mitarbeitende halten heikle Punkte oft zurück, wenn sie negative Konsequenzen befürchten. Psychologische Sicherheit ermöglicht dagegen, dass Fehler, Einwände und kritische Perspektiven offen benannt werden – die Grundlage für Lernen, Anpassung und Innovation. Kein Kuschelkurs.
Um den Unterschied greifbar zu machen, habe ich typische Aussagen aus Teams gesammelt, die Harmonie oder psychologische Sicherheit widerspiegeln:
Merkmal | Harmonie | Psychologische Sicherheit |
Stimmungsbild im Team | „Sind alle einverstanden?“ | „Worauf müssen wir noch achten?“ |
Feedback | „Ja, passt schon.“ | „Mir ist aufgefallen, dass XY noch verbessert werden könnte – wie seht ihr das?“ |
Perspektivenvielfalt | „Ich sag lieber nichts, will niemandem auf die Füsse treten.“ | „Darf ich mal eine andere Sicht einbringen?“ |
Konflikte | Betretenes Schweigen oder schneller Themawechsel | „Wir sehen das unterschiedlich – lasst uns gemeinsam eine Lösung suchen.“ |
Forschung zu organisationalem Schweigen zeigt: Mitarbeitende halten heikle Punkte oft zurück, wenn sie negative Konsequenzen befürchten. Psychologische Sicherheit ermöglicht dagegen, dass Fehler, Einwände und kritische Perspektiven offen benannt werden – die Grundlage für Lernen, Anpassung und Innovation.
4. Gen Z, Inspiration und Sinn – Chancen für Schweizer Unternehmen
Die HSG hat tausende Studierende der Generation Z (Jahrgänge 1995–2010) zu ihren Werten, Interessen und Arbeitsplatzpräferenzen befragt (lies dazu hier). Das Ergebnis: Status und Leistung um der Leistung willen verliert an Bedeutung, gemeinschaftliches Arbeiten und sinnerfüllte Leistung werden wichtiger.
Eine neue Arbeitnehmerstudie von ValueQuest unter über 500 Arbeitnehmenden in der Schweiz und Liechtenstein zeigt ein ernüchterndes Bild:
64 % der Befragten fühlen sich bei der Arbeit uninspiriert
62 % finden kaum oder wenige Inspirationsquellen im Unternehmen
Rund ein Drittel des Potenzials bleibt ungenutzt
Nur 39 % wissen, woran sie arbeiten oder was sie verbessern könnten.
Nur 47 % bekommen regelmässiges Feedback von Führungskräften.
Nur 43 % fühlen sich auch von Kolleg:innen ausreichend gespiegelt.
Dazu kommt: Zwar dürfen viele eigene Ideen einbringen – doch nur ein Drittel erlebt, dass diese auch tatsächlich umgesetzt werden. Fast die Hälfte empfindet das Arbeitsumfeld als wenig innovationsfreundlich.
Die Zahlen sind betrübend. Sinn, Mitgestaltung und ein Umfeld, in dem Ideen gehört werden, sind nicht nur für die Gen Z relevant – viele Generationen suchen genau danach. Faire Löhne, Sicherheit und respektvolle Führung sind zwar für die Zufriedenheit wichtig – aber wer „nur zufrieden“ ist, bringt aber nicht automatisch neue Ideen oder besonderes Engagement ein (Straume & Vittersø, 2012).
Unternehmen, die psychologische Sicherheit, Feedbackkultur, Wertschätzung und Wachstumsmöglichkeiten fördern, schaffen die Voraussetzungen, dass Mitarbeitende jedes Alters ihr volles Potenzial entfalten können – und gleichzeitig das Engagement und die Innovationskraft steigern.
5. Praktische Impulse für Teams
Wie verschieben wir den Fokus von oberflächlichem Konsens zu echter Sicherheit und Inspiration? Offene Fragen stellen ist einer der praktischen Schritte, die eine unglaubliche Kraft haben.
✔️ Verständnisfragen stellen: „Was ist für dich am wenigsten klar?“ / „Habe ich dich richtig verstanden?“
✔️ Offene Fragen stellen: „Was spricht dagegen?“
✔️ Andere Perspektiven einladen: „Welche Sicht fehlt uns noch?“
✔️ Eigene Unsicherheit zeigen: „Ich bin mir hier nicht ganz sicher – wie seht ihr das?“
✔️ Schweigende einbeziehen: „Wir haben X noch nicht gehört – was denkst du?“
✔️ Mit echtem Interesse nachfragen: „Was hat dich daran gehindert, die Deadline einzuhalten?“ statt „Warum hast du den Termin verpasst?“
Weitere wertvolle Impulse zur Förderung von psychologischer Sicherheit in Teams findest du bei psych-safety.org – die dortigen Trainingsimpulse stehen allen frei zur Verfügung.
6. Fazit
Harmonie fühlt sich bequem an – aber sie kann täuschen. Psychologische Sicherheit entsteht nicht, wenn nur einige mutig sprechen. Sie entsteht erst, wenn alle ihre Stimme einbringen können – und wir bewusst Raum dafür schaffen.
Die Frage bleibt: Wie schaffen wir Arbeitsumfelder, in denen Mitarbeitende aller Generationen inspiriert und sicher arbeiten können? Wenn uns das gelingt, entstehen vielleicht nicht nur zufriedenere Teams – sondern Arbeitswelten, die Kreativität, Mut und Zukunftskraft freisetzen.
Quellen
Edmondson, A. (1999). Psychological Safety and Learning Behavior in Work Teams. Administrative Science Quarterly, 44(2), 350–383.
Morrison, E. W., & Milliken, F. J. (2000). Organizational Silence: A Barrier to Change and Development in a Pluralistic World. Academy of Management Review, 25(4), 706–725.
Meyer, E. (2014). The Culture Map: Breaking Through the Invisible Boundaries of Global Business. PublicAffairs.
Inspiration als Produktivitätsfaktor: Neue Arbeitnehmerstudie zeigt Defizite in Schweizer Unternehmen - 13. Mai 2025
HSG legt umfassende Studie zu Gen Z und Arbeitsmarkt vor - 15.05.2025
Straume, L. V., & Vittersø, J. (2012). Happiness, inspiration, and the fully functioning person: Separating hedonic and eudaimonic well-being in the workplace. The Journal of Positive Psychology, 7(5), 387-398.



